Mittwoch, 31. Dezember 2014

Mystik praktizieren II


Das Glaubensleben hat mit dem weltlichen Alltagsleben eines gemeinsam: Alles, was man lernt, will umgesetzt werden, sonst macht alle Mühe keinen Sinn. Bibellesen und Kirche besuchen – alles vergebene Mühe, wenn man das Gelesene oder Gehörte nicht umsetzt. So ist es auch mit der Mystik, dem einzig wahren Glaubensweg. Wie schon erwäht, hat ein Mystiker, dessen Name nicht bekannt ist, im 14. Jahrhundert den folgenden Text geschrieben und gilt heute noch als die beste und einfachste Basis zum Einstieg in die Mystik. Die Schrift „Die Wolke des Nichtwissens“ mit dem „Brief persönlicher Führung“ stelle ich in 4 Teilen zur Verfügung. Hier der 2. Teil:



Nimm einfach wahr, daß du bist

Du bist nun so weit, daß dein Wachstum verlangt, den Verstand nicht länger mit Nachdenken über die vielfältigen und vielfachen Ausfaltungen deines Wesens zu beschäftigen. Früher verhalfen dir diese Übungen zur Erkenntnis Gottes. Sie erfüllten dein Herz mit wohltuender, froher Zuneigung zu ihm und geistigen Dingen und schenkten dir große geistliche Einsicht. Jetzt aber ist es an der Zeit, dich zu bemühen, ständig in der innersten Mitte deiner Seele zu bleiben, um Gott die dunkle Wahrnehmung deines Seins als Erstlingsfrucht anzubieten. Tust du das mit Gottes Hilfe, wird sich Salomos Wort „Nähre die Armen mit deiner Erstlingsfrucht“ erfüllen. Sein Wort wird sich erfüllen, ohne daß dein Denken und Sinnen sich aufhält mit den vielfältigen Eigenschaften deines oder Gottes Seins.

Ich möchte dir eines klarmachen: Bei dieser Übung ist es ebenso nutzlos, dich mit der Vielgestaltigkeit göttlichen Lebens zu beschäftigen wie mit deiner eigenen. Kein Name, keine Erfahrung, keine Einsicht sind der Unendlichkeit Gottes so nahe wie das, was du in der dunklen, liebenden Schau des Wortes „er ist“ besitzen, wahrnehmen und wirklich erfahren kannst. Beschreibe Gott, wie du willst, als guten und gerechten Herrn, erbarmungsvoll, rechtschaffen, weise, allwissend, stark, allmächtig oder als Allwissenheit, Weisheit, Macht, Stärke, Liebe und Güte. Du wirst finden: All diese Bezeichnungen sind in dem kleinen Wort „ist” verborgen enthalten. Gott in seinem reinen Sein ist jedes und allein einem.

In hundert ähnlichen Worten könntest du von Gott sprechen, ohne die Bedeutung des Wortes „ist“ größer machen zu können. Und hättest du keine dieser Bezeichnungen verwendet, die Bedeutung des Wörtleins „ist“ hättest du nicht gemindert. Schließe darum deine Augen in der liebenden Schau des Seins Gottes, wie du dies in der bildlosen Schau deines eigenen Seins tust. Laß dein Sinnen und Denken vom angestrengten Forschen im Vielerlei ausruhen. Laß all das, und ehre Gott nur mit deinem Wesen: mit allem, was du bist und wie du bist. Vereine dein Sein mit Gottes Wesen, denn er ist das strahlende Sein in sich selbst und in dir.

So bringst du alles zusammen und wirst Gott mit sich selbst ehren, denn das, was du bist, stammt von ihm, ist er selbst. Gewiß hast du einen Anfang - der Zeitpunkt, in dem er dich aus dem Nichts rief -, doch dein Sein war und wird immer in ihm sein von Ewigkeit zu Ewigkeit, weil er ohne Ende ist. Darum wiederhole ich nur dies eine:

Ehre den Herrn mit deiner Habe.
Nähre mit deiner Erstlingsfrucht die Armen -
die ganze Menschheit -
dann füllen sich mit Korn deine Speicher.“



Darin liegt eine Verheißung: Dein Herz wird mit überbordender Liebe und sich selbst verströmender Güte erfüllt, die aus deinem Leben in Gott entspringen, welcher der Grund deines Seins und die Ungeteiltheit deines Herzens ist. Es heißt weiter:„Deine Fässer quellen über von Wein.“ Diese Fässer sind deine geistigen Fähigkeiten. Früher hast du sie mit allen möglichen Betrachtungen und mit Nachdenken angefüllt. Du wolltest von Gott und dir, von deiner Wirklichkeit und der seinen etwas mehr verstehen. Jetzt sind sie voll Wein und fließen gar über.

Salomo spricht von Wein und meint bildlich und mystisch die innere Einsicht, die heranreift in tiefer Kontemplation und im Verkosten des verborgenen Gottes.

Dies geschieht wie von selbst, leicht und ohne Mühe, kraft der Gnade. Deine Anstrengung ist jetzt vorbei. Kraft dieser blinden, versunkenen, hingegebenen Liebe werden Gottes Boten dir Einsicht geben. Wie eine Magd zum Dienst ihrer Herrin sind diese Boten Gottes vor allem zu diesem Dienst bestimmt.


Das innere Wesen als Tor zu Gott

Kraft ihrer Eigenart öffnet diese Übung den Menschen für die alles übersteigende Erkenntnis des ewigen Gottes, der voll Liebe in die Tiefe der menschlichen Seele eintritt, sie in geistigem Erkennen mit sich eint und verbindet. Voll Freude über dieses Handeln Gottes sprach der weise Salomo:

Glücklich der Mann, der Weisheit gefunden,
der Mensch, der Einsicht erlangt!
Denn besser ist, sie zu erwerben als Silber,
und sie zu bekommen ist mehr wert als Gold.“

Sie ist die erste und edelste seiner Gaben.
„Mein Sohn, verliere sie nie aus den Augen,
bewahre Klugheit und Umsicht.
So werden sie deiner Seele zum Leben
und deinem Halse zum Schmuck.
Dann gehst du sicher deinen Weg
und stößt nicht an mit dem Fuß.
Setzt du dich nieder,
so brauchst du nicht bange sein,
und ruhst du,
so schläfst du erquickend.
Du mußt dich nicht fürchten vor plötzlichem Schrecknis,
vor dem Unwetter über die Frevler, das kommt.
Denn Jahwe wird deine Zuversicht sein;
er bewahrt deinen Fuß vor dem Fallstrick.“



Ich will dir den tiefen Sinn dieses Spruches erklären. Wer die „Weisheit“ findet, die ihn heil macht, ihn mit Gott verbindet, ist glücklich. Ja, glücklich ist der Mann, der Gott das nackte Bewußtsein seines Seins darbringt. Dadurch erfüllt er seine Seele mit der geistigen Erkenntnis der Liebe, die alle Einsicht eines Genies oder eines Gelehrten weit übertrifft. Diese Weisheit ist besser als Erwerb von Gold und Silber. Sie schenkt inneren Frieden in dieser schlichten, lauteren Übung der Versunkenheit. „Gold und Silber“ bedeuten hier jedwede Sinnes- und Verstandeserkenntnis. Unser Erkennen gewinnt dieses Gold und Silber durch Beschäftigung mit den Dingen, die rangmäßig unter uns sind, die in uns sind oder über uns, also durch Betrachtung der vielfältigen Eigenschaften Gottes oder der Geschöpfe.

Doch nun geht Salomo weiter und erklärt, warum diese innere Übung besser ist; er behauptet ja, sie sei die „Erstlingsfrucht“ des Menschen. Und kein Wunder, wenn du bedenkst, daß diese tiefe

geistliche Weisheit, die in dieser Übung heranwächst, spontan und frei aus dem tiefsten inneren Grund der Seele aufbricht. Es ist dies ein Erkennen dunkel und formlos, weit entfernt von allen Gestalten des Denkens und der Vorstellung. Alle Anstrengung der Sinne und des Verstandes erreichen nicht einmal annähernd ähnliches. Was immer sie an Wissen gewinnen, mag es noch so großartig und tiefschürfend sein, ist im Vergleich zu dieser Einsicht kaum mehr als reiner Dunst. Dies Wissen ist so sehr von jener im inneren Licht aufgehenden Wahrheit verschieden wie das bleiche Mondlicht einer Winternacht vom strahlenden Sonnenglanz eines hellen Sommertags.

Salomo rät seinem Sohn, sich an diese Weisung zu halten, weil damit alle Gebote und Weisungen des Alten und Neuen Bundes in vollkommenster Weise erfüllt sind, ohne sich um irgendein Einzelgebot zu bemühen. Diese innere Übung wird schlechthin „das Gesetz“ genannt, weil sie alle Einzelgesetze und Anweisungen wie eine Wurzel in sich vereint. Bei genauem Hinsehen wirst du entdecken, daß die Kraft der Übung aus der von Gott geschenkten Liebe stammt, in der sie wurzelt und gründet. Diese Liebe, sagt der Apostel, ist die Erfüllung des Gesetzes.108 Folgst du diesem Gesetz der Liebe und diesem lebenspendenden Rat, wird deine Seele, wie Salomo sagt, leben. Im Innern findest du Frieden, weil du in der Liebe Gottes ruhst. Nach außen wird die Schönheit deiner Liebe durch deine ganze Person hindurchstrahlen. Mit unfehlbarer Sicherheit findest du kraft dieser Liebe das richtige Verhalten im Umgang mit deinen Mitmenschen. An der inneren Liebe zu Gott, an dem Ausströmen dieser Liebe auf die anderen hängt das ganze Gesetz und die Propheten, wie die Heilige Schrift sagt. Wächst du durch die Übung nach innen und nach außen in der Liebe, wirst du in der Gnade fest verwurzelt deinen Weg gehen. Auf diesem geistigen Weg ist sie dein Führer. Voll Liebe wirst du dein nacktes Sein dem strahlenden Sein Gottes hingeben. Gott und du, von Natur aus verschieden, sind dann eins in der Gnade.


Die Frucht der Übung und ihre Gefährdung

Es heißt weiter:„Er stößt nicht an mit dem Fuß.“ Das bedeutet: Mit der Zeit wird diese innere Übung zu einer geistigen Fertigkeit. Dann kann die Neugier der Sinne und des Verstandes dich nicht mehr so schnell verführen und vom Wege abbringen. Anfangs war es schwer, sich ihnen zu entziehen. Mit anderen Worten: Der „Fuß der Liebe“ wird jetzt nicht mehr über Vorstellungen und Gedanken stolpern, die aus deiner unstillbaren Wißbegier aufsteigen.109 Wie ich dir schon sagte, wird in dieser kontemplativen Übung alle Neugier aufgegeben und vergessen, damit dein menschlicher Drang nach der Welt der Erscheinungen die dunkle Wahrnehmung deines reinen Seins nicht hindert und dich von dieser edlen Tätigkeit abhält. Jeder bestimmte Gedanke an ein Geschöpf, der dir in die einfache Wahrnehmung deines nackten Seins kommt- des Seins, das ja Gott in dir ist und das zugleich deine tiefe Sehnsucht nach ihm darstellt -, läßt dich in die Geschäftigkeit neugierigen Denkens zurückfallen. Dann bist du nicht mehr ganz bei dir noch bei deinem Gott. Dies führt zur Aufspaltung und zur Zersplitterung der tiefen Sammlung auf dein Sein hin und auf das seine. Kraft der Gnade und des Erkennens, das aus der beharrlichen Übung erwächst, bleibe, sooft du kannst, in der Tiefe deines Seins gesammelt.

Ich sagte dir schon: Diese Übung ist kein Hindernis für deine tägliche Arbeit. Du wirst deiner täglichen Arbeit nachgehen und zugleich mit deiner ganzen Aufmerksamkeit auf die dunkle Wahrnehmung deines Seins gerichtet sein, das mit Gottes Sein vereint ist. Du wirst essen, trinken, schlafen, wachen, gehen, kommen, sprechen, hören, liegen und aufstehen, wirst stehen, knien und laufen, reiten, arbeiten und ruhen. In all deinem Tun wirst du Gott jeden Tag das Beste darbringen, was du zu geben hast. Diese Übung wird die Mitte all deines Tuns, ob aktiv oder kontemplativ.

Salomo sagte ferner, daß du weder die Bedrohung noch die Hinterlist Satans zu befürchten brauchst, wenn du in dieser bildlosen Versunkenheit ruhst, abseits der lärmenden Geschäftigkeit des Bösen, der unerlösten Welt und der menschlichen Schwäche. Trifft dich der Satan bei dieser Übung an, wird er sicher völlig ratlos sein. Geblendet und gequält von Unwissenheit über das, was du tust, wird er es in irrer Neugier herausfinden wollen.110 Kümmere dich nicht darum. Du wirst schlafen in der Liebesvereinigung deines Geistes mit Gottes Geist. Deinen Schlaf kann niemand stören. Er gibt dir tiefe geistige Kraft und Nahrung, die Leib und Seele erneuern. Salomo versichert kurz darauf, daß dies die völlige Heilung des Leiblichen bedeute. Damit will er sagen: Diese Kraft heilt alle Gebrechen und Krankheiten des Leibes. Krankheit und Verwundung kamen ja erst über den Menschen, als dieser sein Einssein mit Gott verlor. Wenn aber nun mit Jesu Hilfe - er ist immer die entscheidende Kraft in der kontemplativen Vereinigung - der Geist die Einheit wieder sucht, wird der Leib heil. Ich erinnere dich noch einmal daran: Nur das Erbarmen Jesu und deine eigene liebende Hingabe lassen dich hoffen, die Vereinigung zu erreichen. Ich vereine meine Stimme mit der Salomos und muntere dich auf: Bleib bei dieser Übung. Bringe Gott in freudiger Liebe ständig dein bereites Herz dar.

„Du mußt dich nicht fürchten vor plötzlichem Schrecknis, vor dem Unwetter über die Frevler, das kommt!“

Hier sagt der weise Salomo: „Laß dir keine Angst einjagen, wenn Satan wild anstürmt (was er gewiß tut) und an die Wände deines Hauses trommelt und hämmert, oder wenn er seine starken Helfer hetzt, dich plötzlich zu überfallen.“ Wir sollten uns darüber im klaren sein: Mit Satan muß gerechnet werden. Wer diese Übung beginnt - wer er auch sei -, kann sicher sein, daß er überraschend Dinge fühlen, riechen, schmecken oder hören wird, Wirkungen, die Satan in den Sinnen auslöst.111 Sei nicht erstaunt, wenn dies eintrifft. Er wird nichts unversucht lassen, dich von den Höhen einer solch wertvollen Übung herunterzuholen.112 Ich sage dir: Halte dein Herz fest am Tag des Leidens, und vertraue voll Gelassenheit auf die Liebe des Herrn. „Er steht dir zur Seite und bewahrt deinen Fuß vor dem Fallstrick.“ Ja, er ist dir nahe und bereit, dir zu helfen.113

„Er bewahrt deinen Fuß vor dem Fallstrick.“ Hier meint Salomo mit Fuß die Liebe, kraft derer du zu Gott emporsteigst. Er versichert, daß Gott dich beschützen wird, damit deine Feinde dich nicht mit ihrer Hinterlist fangen. Deine Feinde sind: Satan und seine Helfer, der eigene Egoismus und der der Welt.114 Schau, mein Freund, unser mächtiger Herr, der die Liebe selbst ist und voll Weisheit und Macht, beschützt und verteidigt dich selbst und steht all denen bei, die nicht für sich selber sorgen und ihm völlig ihre Liebe und ihr Vertrauen schenken.


Klage über den zaudernden Menschen

Aber wo findet sich einer, der sich ungeteilt hingibt, der tief im Glauben verwurzelt, von Grund auf gütig und aufrichtig ist, der seine Selbstsucht vernichtet hat und sich nur von der Liebe des Herrn stärken und führen läßt? Wo gibt es einen solchen Menschen, der reich durch die überragende Erfahrung des Erkennens Gottes, seiner unerforschlichen Weisheit und strahlenden Güte, ein Mensch, der die Einheit der göttlichen Gegenwart in allen Dingen klar erkennt, sowie das Einssein aller Dinge in ihm115 der bereit ist, sein Sein ungeteilt Gott hinzugeben? Wo findet

sich ein Mensch, der mit Gottes Gnade weiß, daß er ohne Auslieferung an ihn nie ehrlich sein wird in seinem Bestreben, sein Selbst zu einem Nichts zu machen? Wo findet sich ein so aufrichtiger Mensch, der es verdiente, diese mächtige Weisheit und Güte Gottes zu erfahren, die ihn birgt und ihn vor inneren und äußeren Feinden schützt kraft seines hohen Entschlusses, das Selbst aufzugeben, und seiner großen Sehnsucht, daß Gott ein und alles sei in der Vollendung der Liebe? Ja, natürlich: Ein solcher Mensch taucht ganz in die Liebe Gottes ein und in die völlige und endgültige Hergabe seiner selbst als einem Nichts oder weniger als ein Nichts, wenn weniger möglich wäre. Darum hat er Frieden und wird nicht länger von ruheloser Geschäftigkeit umgetrieben. Ihn plagen nicht mehr die Sorge und der Kampf um sein eigenes Wohl.

Aber, du halbherziges Volk, behalte deine Zweifel für dich! Hier ist jemand so von der Nähe Gottes berührt, daß er sich aufrichtig und ungeteilt einzig Gott überläßt. Sage nicht, das hieße Gott versuchen. Dir fehlt nur der Mut, das gleiche zu tun. Sei zufrieden mit deiner Berufung zum normalen tätigen Leben. Das ist der Weg zum Heil für dich. Doch laß die anderen in Ruhe! Was sie tun, verstehst du nicht. Halte dich also über ihre Worte und ihr Tun nicht auf, und nimm keinen Anstoß daran!

Eigentlich solltest du dich schämen. Wie lange mußt du noch von all dem hören und lesen, bevor du es glaubst und annimmst? Zu allem füge ich noch hinzu, was unser Väter sagten und schrieben. Entweder bist du so blind, daß das Licht des Glaubens dir nicht helfen kann zu verstehen, was du liest, oder es vergiftet dich gar ein geheimer Neid, daß du nicht begreifen kannst, daß ein solch großes Geschenk zwar für deine Brüder, aber nicht für dich bestimmt ist. Sei klug und nimm dich vor deinem Feind und seiner Falschheit in acht! Er möchte gern, daß du dich mehr auf deinen Verstand verläßt als auf die Weisheit unserer Väter, die Kraft der Gnade und die Führung Gottes. Hast du nicht schon oft in den ehrwürdigen und zuverlässigen Schriften der Väter gelesen oder davon gehört, daß Rahel starb, als Benjamin geboren wurde? „Benjamin“ meint aber das „Gebet der Ruhe“, „Rahel“ dagegen das „Denken“. Wenn die Gnade edler Kontemplation einem Menschen geschenkt wird, die sich zeigt in entschlossener Bereitschaft, sich völlig hinzugeben, und im tiefen Verlangen, daß Gott alles in allem sei -, dann kann man in gewissem Sinn sagen: Der „Verstand stirbt“. Hast du das nicht alles oft in den Werken erfahrener und wissender Männer gelesen oder davon gehört? Warum fällt es dir so schwer zu glauben? Doch wenn du es glaubst, wie kannst du es dann zulassen, daß deine Wißbegier in den Worten und im Leben Benjamins herumstöbert? Benjamin steht für alle, die über ihr Denken und Sinnen hinaus in die Liebeseinheit mit Gott hineingerissen worden sind.116 Von ihnen sagt der Prophet: „Da steht Benjamin, er ist klein und doch ihr Führer“ (Psalm 67,28). Sei wachsam, ich warne dich, und mache es nicht wie jene Rabenmütter, die ihre Neugeborenen ermorden. Gib acht, daß du nicht dein Schwert zückst gegen die Macht, Weisheit und Absicht Gottes. Ich weiß, du willst zwar nur, was Gott will; bist du jedoch nicht vorsichtig, kannst du alles durch deine blinde Unerfahrenheit ungewollt zerstören.


Erfahrung von Geborgenheit und Kraft

Als in der Urkirche Verfolgungen an der Tagesordnung waren, wurden Menschen jeden Alters und Standes – ohne durch besondere religiöse Übungen vorbereitet zu sein - derart unbegreiflich und plötzlich von Gottes Nähe berührt, daß sie, ohne lange zu überlegen, bereit waren, als Blutzeugen zu sterben. Handwerker ließen ihre Werkzeuge liegen, Schulkinder warfen ihre Bücher weg, so groß war ihre Bereitschaft zum Martyrium. Heute lebt die Kirche zwar im Frieden, weshalb sollte es aber so ferne liegen, daß Gott auch heute Menschen jeden Alters und Standes beglückend und urplötzlich mit der Gnade kontemplativen Gebets überfällt? Ist es ein Grund, stutzig zu werden, weil Gott dies will und tatsächlich tut? Gott wird in seiner großen Güte - davon bin ich fest überzeugt - an den Berufenen handeln, wie es ihm gefällt, damit am Ende seine Güte offenbar wird zum Staunen der ganzen Welt. Jeder, der aus Liebe bereit ist, sich selbst zu einem Nichts zu machen, und nur ein einziges Verlangen kennt, daß Gott alles in allem sei, wird von seiner Güte gegen innere und äußere Anfechtungen des Feindes geschützt. Für seine Verteidigung braucht er nicht selbst zu sorgen. Mit einer seiner Güte entsprechenden Treue wird er jene schützen, die, in der Übung der liebenden Hingabe versunken, alle Sorgen um sich vergessen. Wen überrascht es, daß diese Menschen sich so ungemein sicher fühlen, hat sie doch die Treue und Güte Gottes so furchtlos und stark in der Liebe gemacht?

Wer es nicht wagt, sich Gott auszuliefern, und andere kritisiert, die es tun, zeigt nur seine innere Leere. Entweder hat Satan ihm das Vertrauen der Liebe zu Gott gestohlen und dazu das Wohlwollen seinen Mitmenschen gegenüber, oder er wurzelt nicht tief genug im Gutsein und in der Wirklichkeit Gottes, um wirklich ein Kontemplativer zu sein. Habe keine Angst, dich Gott ganz zu übereignen und dich dem Schlaf der blinden Schau des göttlichen Seins hinzugeben, fern vom Weltlärm und den Anfällen Satans und deiner Schwachheit. Der Herr wird bei dir sein und dir helfen. Erwacht über deine Schritte und bewahrt deinen Fuß vor dem Fallstrick.

Nicht ohne Grund vergleiche ich die Übung mit dem Schlaf. Im Schlaf stellen Sinne und Denken ihre Tätigkeit ein. Der Leib ruht und erneuert seine Kräfte. Ähnlich ist es beim geistigen Schlaf. Das ruhelose geistige Tun wie Denken und Vorstellen ist völlig gebunden und das Bewußtseinleer.117 Glücklich dieser Mensch, denn ohne Störung kann er liebend versunken in das Sein Gottes gleichsam tief schlafen und ungestört ruhen.118 Indessen erneuert der innere Mensch wunderbar seine Kräfte.

Siehst du nun, warum ich dir rate, Sinne und Verstand zu fesseln, dich zu weigern, sie zu gebrauchen, und statt dessen Gott die dunkle, nackte Wahrnehmung deines Seins darzubringen? Achte darauf, daß dein Sein unbedeckt ist, unverhüllt von irgendeiner Vorstellung darüber. Du könntest versucht sein, dir Gedanken zu machen über Wert und Würde deines Seins oder endlose Betrachtungen anzustellen über die vielfältigen Bereiche der menschlichen Natur und der Welt. Sobald du das zuläßt, gibst du deinen Sinnen und deinem Denken frische Nahrung. Sie werden kräftig und zerren dich in alle möglichen Zerstreuungen. Ich warne dich, ehe es dir so ergeht. Deine Sammlung würde aufgelöst, Unruhe dich überfallen, und du wärest bestürzt. Hüte dich also vor dieser Falle.

Zum Teil 3

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